„Bruder.“
Ein Wort aus der Dunkelheit.
„Bruder?“
Wir alle sind Brüder. Wer auch immer du bist.
„Bruder!“
Brüder in Nod, jenseits von Eden. Wir sind Menschen, von einem Geschlecht, auf einer Welt. Wir sind allein, wir sind auf einer Insel, wir sind verloren. Wir müssen uns helfen.
„Bruder …“
Ich hatte einen Bruder. Er war ein guter Mensch. Ein wirklich guter Mensch. Mein Bruder. Jetzt bin ich allein. Die alte Geschichte. Die ganz alte Geschichte.
Am Anfang ist doch alles gut. Am Anfang ist noch kein Wort. Am Anfang liegen wir nebeneinander und schauen in den blauen Himmel. Eine Wolke treibt vorbei und ein Vogel singt in einem Baum und der See schwappt kleine Wellen an sein Ufer. Wind streicht über das Kornfeld und oben am grünen Hang ruft ein Schaf. Es ist doch alles gut.
Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit dem HERRN. Und sie fuhr fort und gebar Abel, seinen Bruder. Und Abel ward ein Schäfer; Kain aber ward ein Ackermann.
Die alte Geschichte. Die älteste der Geschichten. Ich weiß doch, was passieren muss. Immer wieder die alte Geschichte.
„Komm doch, Kain, komm zu mir“, sage ich, „trotz allem du bist mein Bruder.“
„Aber du bist doch Kain“, sagt die Stimme in der Dunkelheit, und da erschrecke ich.
Denn der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.
Nur am Anfang ist noch alles gut. Er ist klein und ich bin groß. Er ist schwach und ich bin stark. Ich passe auf ihn auf, behüte und beschütze ihn. Ich zeige ihm, was ich schon weiß. So ist es am Anfang. Er hat vier Buchstaben, ich auch. Jeder vier, jeder ein A und einen zweiten Vokal dazu. Wie Vater, kein Grund zu klagen.
Und doch: Hört sich ein B nicht viel weicher und schöner an als ein K? Gleitet ein L nicht viel zärtlicher aus dem Mund als dieses gepresste N? Abel - das klingt so schön, so harmonisch. Kain - das tönt wie ein Fluch: hingespuckt, herausgewürgt. War wirklich alles gut, am Anfang? Waren die Gaben nicht schon da ungleich verteilt? Haben wir ihn nicht alle von der ersten Stunde an mehr geliebt als mich? Wir alle!
Mutter! Auch du! Er ist zart und er ist anschmiegsam. Er lächelt, schon nach der Geburt. Ich aber habe geschrien, sagst du. Ich habe getreten. Wollte ständig trinken, keine Nacht schlafen, brüllte und brüllte, das ganze erste Jahr. Was für eine Erleichterung muss es für dich sein, dann den kleinen, lieben Abel im Arm zu halten, mit ihm einzuschlafen, ihn friedlich an deiner Seite zu spüren, an deiner Brust. Das kann ich doch verstehen. Ich mag ihn ja auch. Er ist mein Bruder, ich lächele jedes Mal, wenn ich ihn oben am Hang winken sehe. Und schon als Knabe spielt er die Flöte wie kein anderer und ersinnt fröhliche Melodien voller Licht. Ich habe nichts gegen ihn, ich will ihn nicht von dir vertreiben.
Aber auch ich bin dein Sohn. Und wenn ich auch auf breiten Schultern trage und mit großen Händen zupacke und mit schweren Schritten meinen Weg gehe – bin ich dein Sohn. Ich bin der Mann, den du mit dem HERRN gewonnen hast. Ich bin der Erstgeborene, der die Lasten trägt, seinen Pflichten gehorcht und seinen Eltern und dem HERRN. Warum streichst du mir nicht durchs Haar wenn ich am Abend heimkomme, so wie du es bei ihm tust? Warum lächelst du mich nicht an und lobst mit sanfter Stimme die Arbeit, die ich an diesem Tag vollbrachte?
Und warum der Acker? Vater, lass mir das Boot. Fischer will ich werden, am Abend auf den See hinausfahren, die Netze aufstellen, früh am Morgen den Fang heim holen. Ich bin nicht gemacht für den Acker, meine Hände spüren nichts, wenn sie die Krume zerbröseln, meine Füße sind zu schwer. Das Wetter ist mir eine Last und kein Verbündeter. Das Leben auf den Feldern ist nichts für mich. Ich bin der Erstgeborene. Darf ich nicht wählen? Ich hüte auch die Schafe, werde über sie wachen, als seien sie meine Schwestern und Brüder. Ich werde sie zusammenhalten und auf die saftigsten Wiesen führen. Aber nicht den Acker! Bitte, Vater!
„Bruder“, sagst du in der Dunkelheit der Nacht. Du bist klein, ich bin groß. Du bist schwach, ich bin stark. Du hast Angst, mein Bruder, aber ich bin für dich da. Ich reiche dir die Hand und halte deine, bis du schlafen kannst. Wir haben nur uns, wir sind füreinander da. Und morgen gehe ich hinaus auf den Acker, schwinge meine Sense und trage die Ernte heim. Morgen, wenn es hell wird, gehst du hinauf an den grünen Hang, zu deinen Schafen. Dort ist es hell und freundlich und du wirst keine Angst mehr haben, glaube mir.
Und ich gehe auf den Acker und bringe die Ernte ein. Bringe dem HERRN mein Opfer. Ich pflüge und sähe die neue Saat, bringe die nächste Ernte ein. Der ewige Kreislauf, Tag für Tag und Jahr um Jahr. Und niemand fragt, ob es gut ist. Ich werde größer, mein Kreuz noch breiter und irgendwann bin ich so schweigsam wie ein still in der Sonne reifendes Kornfeld. Kein Wort zu viel. Nicht zu Vater. Zu meinem Bruder, vielleicht.
Komm, Bruder, lass uns heute zum See hinunter gehen. Lass uns mit dem Boot hinausfahren und fischen. Wir werden Mutter unseren Fang bringen und gemeinsam essen. Wir sind eine Familie. Vergiss doch einmal für eine kleine Weile deine Herde, die Tiere sind versorgt, komm mit mir. Wir können reden, wenn wir die Netze aufstellen, über unsere Arbeit und unsere Eltern und den HERRN und über den Sonnenschein und den Regen. Lass uns lachen und unbeschwert und vertraut sein. Mein Bruder! Ich weiß, Vater isst gern Fleisch. Aber der Fisch ist rein und frisch, er ist von dir und mir, wir fangen ihn gemeinsam.
Doch ein Lamm zählt mehr als eine Gabe Ähren. Man braucht viel Korn, um ein Schaf aufzuwiegen. Verstehst du das nicht? Das musst du doch verstehen! Aus den Schuppen der Fische kann Mutter keine Wolle spinnen, aus Stroh keine Stoffe weben. Das musst du doch verstehen! Lass das Boot dem Vater, soll er nach den Netzen sehen. Bestell du lieber deinen Acker. Er ist noch nicht einmal zur Hälfte gepflügt, es ist höchste Zeit. Nun geh schon! Geh. Verstehe ich das? Muss ich das verstehen?
Einsam stapfe ich meine Furchen entlang. Breche die harte Erde auf, zerteile die Schollen, wuchte die Pflugschar herum. Ein Kraftakt, jeder Schritt. Schweiß in jeder Furche, schon bevor der Samen hineinfällt. Ehrliche Arbeit, da können sie sagen, was sie wollen, ehrliche und harte Arbeit. Ich will nicht klagen, aber mein kleiner Bruder sitzt bei seinen Schafen oben am grünen Hang und sieht ihnen beim Grasen zu und spielt so wunderbar die Flöte. Ganz zarte Hände hat er, so sanfte Töne lässt er klingen! Er entzückt sie alle. Aber wehe, der Regen schwemmt den Acker fort. Wehe, die Sonne verdorrt die Felder. Wehe, die Ernte ist nicht rechtzeitig eingebracht. Wehe dem Ackermann! Stapfen und stampfen, Furche um Furche.
Und kehre ich heim, ist der Braten schon fast gegessen. Brot ist noch da und etwas sehniges Fleisch. Brot für den Ackermann. Dank dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat, für dieses Brot. Dank dem HERRN, der gerecht ist und alles sieht und jeden seiner Diener liebt und schätzt. Der HERR kennt den Wert des Korns, er hat gesehen, welche Arbeit in diesem Brot steckt, wie viel Schweiß und Schmerz. Er weiß es zu wiegen, weiß, dass es nicht weniger zählt als eine schöne Melodie. Mögen die Hunde die Knochen abnagen, das Brot ist mir genug. Und morgen, bei Sonnenaufgang, da werde ich dem HERRN einen Sack meines besten, reinsten Korns zum Opfer bringen.
Doch der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich.
Diese alte Geschichte!
Oben, am grünen Hang, sehe ich die Sonne scheinen. Oben, vom grünen Hang, weht eine fröhliche Melodie herab. Der Regen hat sich im Tal gefangen, hängt hier unten fest und macht den Boden schwer. In Klumpen klebt er überall, die Pflugschar sinkt zu tief hinein und steckt bei jedem Schritte fest. Und die Schafe stehen oben am Hang und lachen dazu! Da ballt sich die Faust, ja, muss sich doch ballen, um den Pflug herauszureißen, und die Füße aus dem Schlamm! Warum nur durfte ich nicht Fischer sein, warum haben sie mir das Boot nicht gegeben? Die Fruchtbarkeit im Schoß der Erde, das sollte mein Leben sein. Mit jedem Schritt versinke ich tiefer darin. Von dieser Saat wird keine Ernte zu erwarten sein. Doch pflügen muss ich, weiter pflügen, und ist der Regen noch so kalt.
Nun fehlt nicht mehr viel. Bald haben sie mich so weit. Das Blut kocht in meinen Adern, mein Herz schreit voller Wut heraus. Ja, die Faust ist geballt, hat sich schon um meinen Knüppel geschlossen, nicht mehr um den Pflug. Und oben am Hang steht die Sonne jetzt tief, flutet mein Feld mit zähem Abendrot. Und schwüle Luft sinkt ins Tal hinab, Gewitterluft. Meine Bestimmung! Die Hand fest um das Holz geschlossen. Wie kann ich anders? Habe ich es nicht versucht? Beim Vater? Bei der Mutter? Beim Bruder? Was soll ich denn machen, wenn sie alle mich nicht wollen? Wenn ich nicht mehr zähle als ein Ochse, der die Pflugschar durch die Erde zieht?
HERR, Allmächtiger, erhöre mich. Erhöhe das Flehen deines Dieners. Ich will mein Joch ja tragen. Will mich fügen, in mein Leben draußen auf den Feldern. Will nicht hadern mit meinem Schicksal. Es ist nicht recht von mir, mich mit meinem Bruder zu vergleichen, mich nach seinem Leben zu sehnen, nach seinen Gaben und Talenten und der Ruhe an den grünen Hängen bei den Schafen mit dem weichen, warmen Fell. Aber HERR, Allmächtiger, verlangst du wirklich von mir, dass ich Tag für Tag, jahraus, jahrein, mein ganzes Leben lang, hinter meinen Bruder zurücktrete? Erwartest du, dass ich mit meinem großen, starken Körper immer hinter diesem kleinen, zarten Jüngling stehe? Soll ich mich darein finden, dass er alles bekommt und ich gar nichts? Nichts und nichts und wieder nichts? Willst du das? Ist es wirklich das, was du willst?
Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde? Ist´s nicht also? Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruht die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Ich bin fromm. Oh, wie ich fromm bin. Habe treu mein Opfer dargebracht. Habe verlässlich meine Aufgaben erfüllt. Ich bin immer ein fügsamer Sohn gewesen. Ein gehorsamer Diener. Immer wieder bin ich auf meinen Acker zurückgekehrt. Jeden Tag arbeite ich dort, und ich arbeite länger als jeder andere. Dafür darf mich niemand gering schätzen, dafür habe ich doch auch mein Lob verdient. Darf ich nicht danach dürsten, ein wenig geliebt zu werden auf dieser Welt? Ist denn das wirklich schon zu viel verlangt?
Doch der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.
Die alte Geschichte.
Ich soll das Mal tragen, die Schuld. Das ist meine Bestimmung, von Anfang an. Deswegen muss ich die schwere Feldarbeit verrichten, während mein Bruder bei den Schafen sitzt. Deswegen spielt er so wunderbar die Flöte, deswegen lieben sie ihn alle und mich nicht. Deswegen stehe ich mit dem Knüppel in der Hand auf meinem Feld in der untergehenden Sonne. Deswegen warte ich darauf, dass er zu mir aufs Feld kommt. Ich habe ihn schon gerufen. Den Knüppel schon erhoben. Abel, mein lieber Bruder, ich muss mit dir reden. Komm zu mir!
Dafür werden sie mich hassen. Sie werden mich vertreiben. Weil ich nicht über die Sünde herrsche. Fliehen werde ich, fort von hier, von Mutter und Vater. Weil ich mit meinem Bruder Abel reden werde, auf dem Felde. Ich werde ihm zeigen, wie hoch das Korn schon steht, werde ihn fragen, ob das denn gar nichts sei, ob diese Ernte nicht ein Glück und ein Segen sei. Was wird er sagen? Wird er lachen? Mich verspotten? Oder gar nichts sagen und nur auf seiner Flöte spielen? Ich will es nicht hören. Ich will nicht die Wut aufkochen spüren, will nicht spüren, wie sie mir in den Arm fährt, bis sein Blut auf meinem Acker versickert. Ich will nicht in seine fassungslos aufgerissenen Augen starren und fühlen, wie Scham und Verzweiflung über mich kommen. Ich will nicht diese alte Geschichte, will nicht mit dem beginnen, was dann nicht mehr aufhören wird bis ans Ende der Tage und wieder und wieder und wieder wird es dann der Knüppel sein, hat er erst einmal das Blut geschmeckt . Mein Knüppel! Ich will das nicht! Will das nicht!
„Bruder?“
Du bist klein, ich bin groß. Du bist schwach, ich bin stark. Deine Stimme klingt vom grünen Hang herab.
„Bruder!“
Ich drehe mich um. Ich will das nicht. Der Stock in meiner Hand sinkt herab. Ich stütze ihn auf den Boden. Er ist fest und hart und er gibt Halt. Er könnte einen guten Wanderstab abgeben. Und fortgehen muss ich ja doch. Verjagen werden sie mich. Warum dann nicht gleich gehen, jetzt, noch bevor das Blut meines Bruder von der Erde meines Ackers schreit. Bevor ich das Mal trage, das schlimmer ist als der Tod. Es gibt keinen Grund zu warten.
„Bruder?“
Ich gehe. Fort von Eden. Gehe lange und gehe weit. Jetzt gleich, bevor Abel mit mir spricht auf meinem Acker.
Ich herrsche nicht über die Sünde. Sie verlangt nach mir. Soll sie mich suchen. Sollen sie mich alle suchen. Sollen Vater und Mutter sich grämen. Soll Abel über das Feld laufen und mich rufen. Soll der HERR ihn fragen, wo ich bin. Warum ich nicht mehr da bin.
„Bruder?“
Wir alle sind Brüder. Wer auch immer du bist.
„Bruder!“
Brüder in Nod, jenseits von Eden. Wir sind Menschen, von einem Geschlecht, auf einer Welt. Wir sind allein, wir sind auf einer Insel, wir sind verloren. Wir müssen uns doch helfen.